Multiple Sklerose: Evozierte Potenziale und Prognose
Die primär progressive Form der Multiplen Sklerose (MS) zeichnet sich eher durch eine prädominante Neurodegeneration als durch chronische Entzündung des Nervensystems aus. Der Verlauf ist sehr unterschiedlich: Bei manchen bleiben die Symptome eine Zeit lang stabil, bei anderen kommt es sehr schnell zur Verschlechterung. Verlässliche Biomarker zur Prognose des Verlaufs können die Patientenbetreuung verbessern; hierfür könnten sich evozierte Potenziale eignen.
Studien zufolge sind in der Magnetresonanztomografie sichtbare atrophische Veränderungen der weißen und grauen Substanz im ZNS sowie im zervikalen Rückenmark moderat assoziiert mit dem Verlauf einer primär progressiven MS. Diese Veränderungen spiegeln eine Schädigung der Nervenfasern wider, werden aber auch durch inflammatorische Prozesse und Begleiterkrankungen beeinflusst. Viele auffällige Ergebnisse der evozierten Potenziale (EP) hingegen sind direkte Folge von neurodegenerativen Prozessen, d. h. der Schädigung der Axone selbst oder der Myelinscheide. Mit Ausnahme einer akuten Demyelinisierung können EP damit Aufschluss über die neurodegenerativen Veränderungen bei MS geben. Dass visuell (VEP), motorisch (MEP) oder somatosensorisch evozierte Potenziale (SEP) mit der klinischen Symptomatik bei verschiedenen Formen der MS korrelieren, wurde in einigen Untersuchungen mit verschiedenen Protokollen bereits gezeigt. Es fehlt jedoch an einer Standardisierung der ausgewählten Tests. Ersten Ergebnissen von Hardmeier et al. zufolge ermöglicht ein kombinierter Score aus den 3 EP-Modalitäten, das klinische Fortschreiten einer primär progressiven MS prognostisch abzuschätzen. Dies überprüften die Autoren nun in einer multizentrischen Kohorte von 39 Erwachsenen mit primär progressiver MS und einem Score zwischen 2,0 und 6,5 auf der Expanded Disability Status Scale (EDSS). Während der EDSS-Score zu Beginn im Median 4,0 betrug, lag dieser Wert am Ende des Follow-up von durchschnittlich 2,8 Jahren bei 5,0. Ausgeschlossen wurden Patienten, bei denen die EP-Messung nicht möglich war.
Visuelle EP wurden einzeln im rechten und linken Auge, somatosensorische sowie motorische EP an den Armen und Beinen gemessen; aus allen Daten wurden jeweils ein quantitativer EP-Score sowie ein kombinierter Score ermittelt. Die Autoren berechneten, ob diese EP-Ergebnisse mit den klinischen EDSS-Scores zu Beginn und knapp 3 Jahre später korrelierten. Dabei berücksichtigten sie auch die bereits zuvor publizierten Daten aus einer Kohorte von 21 Patienten mit primär progressiver MS.
Mit Ausnahme der quantitativen visuellen EP ließen sich Assoziationen zwischen allen EP-Scores und den Veränderungen der EDSS-Scores zu Beginn und am Ende der Studie feststellen. Die beste Korrelation zeigten die quantitativen SEP und MEP im Bereich des M. tibialis, also die Funktion der langen Nervenbahnen. Wurden die quantitativen Daten aus diesen beiden Tests kombiniert, steigerte dies die prognostische Aussagekraft noch: Damit ließen sich bis zu 32% der Veränderungen des EDSS-Scores bei den Patienten im Verlauf von 3 Jahren vorhersagen. Das Alter oder der EDSS-Score zu Beginn hingegen waren in dieser Studie mit dem klinischen Verlauf nicht signifikant assoziiert. Da evozierte Potenziale nichts über die Funktion des Kleinhirns, eine Fatigue-Symptomatik oder die kognitiven Fähigkeiten aussagen, ergibt sich diesbezüglich eine diagnostische Lücke. Daher ist es sinnvoll, zusätzlich andere Biomarker zur Abschätzung der Prognose zu nutzen.
Fazit:
Evozierte Potenziale können wesentlich dazu beitragen, eine Aussage zur Prognose des klinischen Verlaufs bei Patienten mit primär progressiver MS zu machen. Die Testung bzw. Funktion der langen Nervenbahnen und motorischen Funktion haben prognostisch das meiste Gewicht. Auch weil sich die Ergebnisse anhand einer früheren Kohorte bestätigen ließen, halten die Autoren die multimodalen EP trotz der kleinen Studie als prognostischen Marker bei dieser Form der MS für geeignet.
Quelle:
Multiple Sklerose: Evozierte Potenziale und Prognose. Klinische Neurophysiologie 2023; 54(01): 7 – 7. doi:10.1055/a-1870-1416
Publikationsdatum: 14. März 2023 (online)
Autor Studienreferat: Dr. med. Susanne Meinrenken, Bremen